Der Blick nach dem Aufwachen aus dem Fenster ist ernüchternd. Die Eisschollen sind verschwunden, der Himmel ist grau verhangen, es nieselt. Typisches Herbstwetter halt. Das kennen wir so gar nicht mehr – in den letzten zwei Wochen hatten wir ja praktisch nur blauen Himmel und Sonnenschein.
Aber es hilft ja nichts – wenn wir den Landgang nach Siorapaluk machen wollen, müssen wir raus aus dem Bett. Und so gibt es ein kleines Frühstück bevor die Ausbootungen beginnen. Wir sind heute die letzte Gruppe, da danach aber Pendelverkehr angesetzt ist, kann man sich natürlich auch noch etwas Zeit lassen. Man muss ja nicht unbedingt der Erste an Land sein.
Und so habe ich dann gegen 9.30 Uhr meinen „eigenen“ Zodiac-Service, der mich an den Sandstrand von Siorapaluk, der am nördlichsten gelegenen, dauerhaft von Einheimischen bewohnten Siedlung Grönlands, bringt.
Etwa 70 Einwohner leben hier, man hat einen Supermarkt und – wieder einmal – das „nördlichste Postamt“. Da habe ich doch gleich ein Déja-vu – „nördlichste Postämter“ hätte ich doch auch schon auf Spitzbergen und in Norwegen. Aber wie immer kommt es da auf die Details an. Während das eine das nördlichste Europas war, ist das andere das nördlichste der Welt gewesen, allerdings in einer nur zeitweise von Forschern bewohnten Station. Dieses hier ist in der Tat wohl das nördlichste Postamt der Welt „in einer dauerhaft von Einheimischen bewohnten Siedlung“. Aber bestimmt bin ich demnächst mal wieder in einem „nördlichsten Postamt“, irgendwo auf dieser Welt … 😉
Trotzdem ist das Grund genug, noch schnell die eine oder andere Ansichtskarte zu erstellen und diese auf den Postweg in die Heimat zu bringen. Ob die natürlich jemals ankommt (und wenn ja, ob das noch dieses Jahr sein wird) wird sich zeigen …
Zunächst einmal ist aber die Hürde mit den Briefmarken zu nehmen. Und das ist gar nicht mal so einfach. Das Postamt hat hier zwar täglich von 9 – 12 und von 15 – 18 Uhr geöffnet (wohlgemerkt bei 70 Einwohnern!), aber auf den Ansturm von fast 100 „Rotjacken“ ist man hier dennoch nicht eingerichtet.
Die Poststelle ist im Supermarkt integriert (das kennen wir ja sogar von uns zu Hause), die Supermarktverkäuferin arbeitet aber mit „deutscher Gründlichkeit“. Also: mit den Fingern wird angezeigt, wie viele Marken man haben möchte und wohin die Karten gehen sollen (ob die Verkäuferin verstanden hat, was mit „Germany“ gemeint ist, ist natürlich nicht ganz klar – aber wahrscheinlich kostet eine Karte irgendwohin außerhalb Grönlands eh immer das gleiche).
Und zwar 15 Kronen. Dummerweise sind die 15-Kr-Marken ausverkauft (vermutlich war da in diesem Jahr bereits ein Kreuzfahrtschiff hier), so dass eine Kombination aus 10-Kr- und 5-Kr-Marken benötigt wird. Und diese werden akribisch aus dem Bogen abgetrennt, da bleibt jede Zacke unbeschädigt.
Danach wird die Mappe mit den Marken wieder weggelegt und die Registrierkasse bemüht. Anhand einer Liste findet sich wohl ein Code für jeden Markentyp, den man da eintippt und dann zeigt die Kasse am Ende tatsächlich den Gesamtbetrag an (bei mir beispielsweise 45 Kronen für drei Briefmarken). Wie praktisch alle anderen zahle ich mit einem 50-Kronen-Schein und erhalte das entsprechende Wechselgeld.
Beim nächsten dann das gleiche Spiel. Aber nicht, dass jemand meint, die Mappe mit den Marken würde mal auf der Theke liegenbleiben – nein, die wird wieder weggeräumt. Woher soll man denn auch wissen, dass die vielen Leute mit den roten Jacken, die da in einer Schlange stehen, alle Briefmarken wollen. Vielleicht will ja auch einer ein Päckchen Salz kaufen … Und auch der Code aus der Liste wird wieder herausgesucht – man weiß ja nie, vielleicht hat der sich ja innerhalb der letzten zwei Minuten geändert. 😉
Und so geht das jetzt mehr oder weniger den ganzen Vormittag. Die grönländische Mutter mit ihrem Kind, die wahrscheinlich „nur mal schnell in den Supermarkt“ wollte, hat sich bestimmt gewundert, dass der Einkauf heute über einer Stunde dauert … 😉
Die Auswahl im Supermarkt ist übrigens sehr überschaubar – wir finden vieles, was es auch bei uns gibt, aber auch viele grönländische Produkte (die bei genauerem Hinsehen dann u.U. aber auch in Deutschland produziert wurden). Wobei man von einem Produkt tendenziell nicht mehrere Marken erwarten sollte. Da gibt es eine Sorte Erdbeermarmelade, eine Sorte Nuss-Nougat-Creme, eine Sorte Babywindeln. Und die nimmt man oder lässt es sein; Alternativen gibt es dann nur im Supermarkt in der nächsten Siedlung, hundert Kilometer südlich. Und vermutlich wird auch weder REWE noch amazon am nächsten Tag oder gar gleichtägig liefern 😉
Eins muss man aber auch erwähnen – und da ist Fremdschämen angesagt. Am Supermarkt weist ein großes Schild darauf hin, dass man nicht wünscht, dass fotografiert wird. Und das kann ich sogar verstehen – wenn da mehr Rotjacken einfallen als hier Einwohner leben, entsteht ja doch leicht mal das Gefühl, mal wäre Bewohner eines Zoos.
Warum sich da dann aber über 80% von uns darüber hinwegsetzen müssen und selbst den Hinweis der Verkäuferin, dass sie keine Fotos von sich haben möchte, konsequent ignoriert, bleibt mir ein Rätsel. Und wenn man dann auf den dezenten Hinweis, dass man das nicht gut findet, zur Antwort erhält: „Die soll sich mal nicht so haben.“, zweifelt man dann schon daran, ob man hier in der richtigen Gesellschaft unterwegs ist.
Natürlich sind so etwas Einzelfälle und es gibt auch Beispiele für das genaue Gegenteil (so gibt es zahlreiche Passagiere, die kleinen Kindern den einen oder anderen bunten Stein abgekauft haben, um diesen eine Freude zu machen) – ein leichter Beigeschmack bleibt aber dennoch …
Über Mittag sind wir dann auf dem Schiff und nähern uns dabei unserem nächsten Ziel, Qaanaaq, an. Mit 635 Einwohnern handelt es sich um die größte Stadt des nördlichen Grönlands, es gibt ein Krankenhaus, eine Schule, eine Kirche und ein Museum. Der Ort selbst wirkt allerdings ein bisschen grau und trist.
Das Wetter hat sich nicht wirklich gebessert, es regnet weiterhin leicht und auch der Wind hat ein bisschen zugenommen, so dass wir um uns herum durchaus von einer bewegten See sprechen können. Insofern ist auch die Anlandung mit den Zodiacs kein reiner Ausflug – Spritzwasser ist obligatorisch.
Wer nicht nass werden will, bleibt also besser an Bord – so wie ich. Auch wenn mir dabei eine Besonderheit von Qaanaaq entgeht: in der Kirche hängt ein Altargemälde, auf dem Jesus gemeinsam mit einigen Inuit-Kindern auf dem Hausberg Thule sitzt. Und aus Mitleid hat man dem ursprünglich hier barfuß sitzenden Jesus nachträglich warme (blaue) Socken an die Füße gemalt.
Gegen 18.30 Uhr beenden wir den Landgang und setzen unsere Fahrt in Richtung Süden fort (hatte ich schon erwähnt, dass einige fiebernd darauf warten, dass wir in Reichweite des Kommunikationssatelliten kommen?) und treffen uns auch gleich im Club zu einem weiteren Precap für die kommenden Anlaufziele bevor es dann wie immer zum Abendessen ins Restaurant geht.
Und das eigentlich nur, um im Anschluss erneut im Club zusammen zu kommen – hier findet ein Expertengespräch mit dem Hoteldirektor und dem Küchenchef zum Thema „Warenlogistik“ statt. Und gerade vor dem Hintergrund, dass ja seit einigen Tagen keine Cola zero mehr verfügbar ist und man sich wohl auch bei Cola light an die Grenzen arbeitet, ist das ein für uns sehr spannendes Thema.
Und zugegeben – ich kenne das ja schon ein bisschen von anderen Kreuzfahrtschiffen. Aber bei einer Expeditionskreuzfahrt, die ja zu eher abgelegenen Zielen geht, ist das dann doch noch mal etwas Anderes. Während man im Bedarfsfall im Mittelmeer relativ problemlos noch mal irgendwo etwas nachkaufen oder sich aus Deutschland nachliefern lassen kann, sind die Möglichkeiten hier dann doch eher eingeschränkt.
Denn gerade in den Gegenden, wo man im Notfall noch nicht mal eine Rettung über einen Hubschrauber organisieren könnte (so wie die vergangenen Tage im Smith Sound), kann man natürlich auch nicht mal schnell ein paar Bananen, Toilettenpapier oder gar irgendwelche Getränke nachordern.
Von daher spielt die Logistik hier schon eine bedeutende Rolle – aber da es bislang jeden Tag bis zu sechs Mal etwas zum Essen gab (zwischen Frühstück und Mittagessen gibt es immer eine warme Bouillon, nachmittags Kaffee und Kuchen und um 22.30 Uhr noch einen kleinen, täglich wechselnden Snack zur Nacht) und auch die Qualität nicht nachlässt, scheint das hier ja schon mal gut geklappt zu haben. 🙂
Weiterlesen: 18. August 2016: Old Thule, Grönland